Wiener Lied

Wiener Lied
Wiener Lied,
 
Wien war schon um 1800 eine Großstadt mit einer reichhaltigen städtischen Folklore. Hunderte einfach gehaltener Lieder, meist in lustiger, gemütvoller Grundhaltung, in denen sich der Wiener Alltag widerspiegelte, entstanden anonym im Volk, wurden von ihm gesungen, aufgenommen und weitergegeben. Eine wichtige Quelle bildeten die Ländler, die in Melodik und Rhythmus nachempfunden wurden, aber auch beschwingte Märsche. In den Biergärten und Heurigenlokalen sang man diese Lieder ebenso wie bei vielen gleichförmigen Arbeitsvorgängen, deren Monotonie mit Gesang überbrückt werden konnte. Kleine Instrumentalensembles, wie sie Jahrzehnte später durch die Gebrüder Schrammel — Johann (1850-1893) und Josef (1852-1895) — (Schrammelmusik) bekannt wurden, spielten diese Lieder und ihnen entsprechende Tanzstücke auch bei familiären Anlässen.
 
Nach der Revolution von 1848 vollzog sich ein spürbarer Wandel, der inhaltliche und ökonomische Gründe hatte. Mehr und mehr verloren die Wiener Lieder ihren volksmusikalischen Charakter und wurden zu einer Unterhaltungsmusik umfunktioniert. Eine Flut nunmehr professionell geschaffener Stücke entstand. Das Heitere blieb, bekam jedoch zunehmend einen rührseligen, sentimentalen Anstrich, die »Weaner G'mütlichkeit« erfuhr eine sentimentale Verklärung und wurde zu einem Markenzeichen dieser Musik. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzende Massenproduktion lässt sich z. B. an einigen Autoren belegen: Johann Sioly (1848-1911) schrieb etwa zehntausend (!) solcher Lieder, Karl Lorenz (1851-1909) über zweitausend, Ludwig Gruber (1849-1915) mehr als tausend — verständlich, dass bei einer derartigen Quantität ein Qualitätsverlust einsetzen musste. Dennoch haben sich einige dieser Lieder bis in die Gegenwart erhalten, nicht zuletzt dank ihrer Interpreten, z. B. der Wiener Volkssänger Alexander Girardi (1850-1918), der Filmschauspieler Hans Moser (1880-1964), Peter Alexander (* 1926) u. a.
 
Auch im 20. Jahrhundert entstandene Wiener Lieder, z. B. »Im Prater blühn wieder die Bäume« (Robert Stolz, 1916), »I hab' die schönen Maderln net erfunden« (Ludwig Schmidseder, 1938) und Hermann Leopoldis' (1888-1959) Kompositionen »In einem kleinen Café in Hernals« (1951), »Schön ist so ein Ringelspiel« (1931) und »Ich bin ein stiller Zecher« (1934).
 
Seit einigen Jahren entwickelt sich auch ein neuer, sozialkritischer Typ des Wiener Liedes. André Heller (* 1947) führt das auf »das neu entstandene, unchauvinistische Dialektbewusstsein und ein damit verbundenes Besinnen auf die jenseits vom wehleidigen Schmäh beeindruckende Kraft Wiens« zurück und erklärt dazu: »Der Wiener Dialekt ist ein Blutsbruder der Musik und kann in Verbindung mit dieser seine unverlogensten, betroffen machendsten Wirkungen erzielen« (1979). Neben André Heller haben sich vor allem Ludwig Hirsch (* 1947) und Michael Heltau (* 1933) als Vertreter dieses neuen Wiener Liedes profiliert.

Universal-Lexikon. 2012.

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